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2006 fand in der Gemeinde Wolfurt der erste Bürgerrat im österreichischen Bundesland Vorarlberg statt. Seitdem, Stand November 2021, wurden in Vorarlberg mehr als 45 Bürgerräte durchgeführt – seit 2016 die meisten unter Einbeziehung der digitalen Beteiligungsplattform CrowdInsights. Das hat seinen guten Grund: Sowohl der Insights-Prozess, der der digitalen Plattform und dem Beteiligungsansatz von CrowdInsights zugrunde liegt, wie das Vorarlberger Modell des Bürgerrates basieren auf dem gleichen Prinzip. 

Hier muss man ein wenig ausholen. Denn hinter dem, was als „Bürgerrat“ bezeichnet wird, stecken verschiedene Verfahren mit jeweils eigenen Methoden der Teilnehmendenrekrutierung, der Moderation und der Ergebnisfindung. Es gibt Bürgerräte nach Art einer Planungszelle, nach Art einer Citzens Jury, individuell zurechtgezimmerte Verfahren, und eben das Vorarlberger Modell. Was das Vorarlberger Modell neben anderem von den übrigen Bürgerratsverfahren unterscheidet und auszeichnet, ist die Form der Resultate. Das Vorarlberger Bürgerratsmodell liefert als Resultat kein Votum von Bürger:innen – so wie bei dem viel zitierten Fallbeispiel des als Citizens Council angelegten nordirischen Bürgerrates zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Beim Vorarlberger Bürgerrat entwickeln Bürger:innen gemeinsam Pläne und Maßnahmenkataloge, die am Ende von einer so genannten Resonanzgruppe noch einmal redaktionell überarbeitet und eventuell nachgeschärft werden. Bei CrowdInsights sprechen wir hier von Erkenntnissen. Erkenntnisse sind vergleichbar mit Teilen eines Puzzles: Erst dann entsteht ein verwendbares Bild, wenn man alle relevanten Teile beisammen hat. Es kommt weniger darauf an, wer oder wie viele Bürger:innen ein bestimmtes Puzzleteil beisteuern, sondern darauf, dass am Ende kein wichtiges Puzzleteil fehlt. Die CrowdInsights-Plattform mit ihren integrierten Analysetools erleichtert es, große Mengen von Ideen und Textbeiträgen zu Erkenntnissen zu verdichten und somit dafür zu sorgen, dass keine Puzzleteile verloren gehen. In Vorarlberg wird deshalb die Plattform verwendet, um über den gesamten Prozess eines Bürgerrates hinweg Material zu sammeln und die Ergebnisse am Ende zusammen zu führen. Ein Beispiel dafür ist der Bürgerrat Landwirtschaft (2019). Zwischenresultate aus Workshops mit verschiedenen Stakeholdern, die im Zuge der Bürgerrates durchgeführt wurden, sind sämtlich unter der Rubrik „Antworten“ auf der Plattform dokumentiert. Ebenfalls auf der Plattform finden sich die finalen Erkenntnisse – eine Liste von insgesamt zehn Punkten. Jede Erkenntnis ist auf die Antworten der Teilnehmenden aus dem Prozess rückverlinkt. Der zusammenfassende Ergebnisbericht greift die auf digital dokumentierten Resultate noch einmal auf und bettet sie in eine Gesamtdarstellung des Prozesses ein. 

Nicht im Bericht und auf der Online-Seite sichtbar, aber dennoch ein wichtiges Moment im Hintergrund ist das Analyseverfahren, welches durch die digitale Plattform unterstützt wird. Das Verfahren besteht aus drei Schritten. Im ersten Schritt werden aus den online eingereichten Antworten sowie aus den Workshopprotokollen, die ebenfalls als „Antworten“ auf die Plattform hochgeladen wurden, Kernaussagen isoliert. Wichtig: jede Kernaussage bleibt mit dem Volltext der Antwort digital verbunden, so dass Kontext und Details weiterhin nutzbar bleiben. Die Kernaussagen werden in einem zweiten Schritt zu Gruppen geclustert. In einem dritten Schritt werden aus den Clustern Erkenntnisse abgeleitet. In der Praxis ist dieser Prozess iterativ. Ein fiktives, aber griffiges Beispiel: Um aus Kernaussagen, die die Begriffe „Esel“, „Hahn“, „Hund“ und „Katze“ enthalten, als Erkenntnis die Bremer Stadtmusikanten herauslesen, hat man besser schon beim Clustern eine Idee, wonach bei der finalen Erstellung der Erkenntnisse zu suchen ist. Ansonsten ordnet man die Tiernamen vielleicht gar nicht erst einem gemeinsamen Cluster zu – und kommt so auch nicht auf die Lösung. 

Die Form der Resultate – ob ja/nein Entscheidung, ob „Teile eines Puzzles“, ob von Teilnehmenden selbst verschriftlicht oder von einem Resonanz- und Redaktionsteam erstellt – ist entscheidend für den gesamten Prozess. Bei einem Bürgerrat, der auf eine ja/nein-Entscheidung zugespitzt, ist es enorm wichtig, dass die Teilnehmenden die Zusammensetzung der Bevölkerung wiederspiegeln – ansonsten ist das Resultat (ob Konsens oder Abstimmung) wenig aussagekräftig. Beim Vorarlberger Bürgerrat hingegen ist Heterogenität wichtiger als Repräsentativität. Hier kommt es vor allem darauf an, Ideen und Vorschläge von möglichst vielen verschiedenen Menschen mitzunehmen, damit kein wesentliches Detail vergessen wird. Ein zweiter Unterschied ist die Art des Miteinander-Arbeitens und der Moderation. Während beim ja/nein-Entscheid das gemeinsame Abwägen von Argumenten, also die Deliberation im Vordergrund steht, erfolgt das Miteinander in Vorarlberg im Modus der Ideation, also des Ideensammelns, und der Co-Creation, das heißt der gemeinsamen Ausarbeitung von Ideen. An der Form der Resultate hängt es, wie gut ein Bürgerrat durch asynchrone digitale Verfahren ergänzt werden kann wie Chats oder Online-Befragungen (im Unterschied zu synchronen Formaten wie einer Videokonferenz). Das Abwägen von Argumenten funktioniert eher nicht so gut im asynchron-digitalen Modus, Ideation und Co-Creation hingegen hervorragend. Deshalb kommt in Vorarlberg die CrowdInsights-Plattform nicht nur als Dokumentations- und Analysetool, sondern auch als ergänzender Kanal zum Einsatz, über den Bürger:innen ihre Ideen zum Bürgerrats-Thema oder zu einem bereits vorliegenden, von einem Bürgerrat erarbeiteten Entwurf beisteuern können. Ein gutes Beispiel dafür ist der Bürgerrat in Wipptal, wo Resultate des eigentlichen Bürgerrates, so wie es das Vorarlberger Modell vorsieht, auf einem so genannten Bürgercafé einer größeren Öffentlichkeit präsentiert und noch einmal kommentiert und ergänzt wurden. In Wipptal wurde zusätzlich zum Bürgercafé ein digitaler Beteiligungsprozess durchgeführt, bei dem Bürger:innen und Stakeholder aus der Region die aus fünf inhaltlichen Blöcken bestehende Vorlage des Bürgerrats ergänzen. 

Teile eines Bürgerrates rein digital durchzuführen, hat erkennbare Vorteile. Bei der Standardmethode kommt eine Gruppe von ungefähr zwanzig ausgelosten Bürger:innen über ein ganzes Wochenende oder sogar über mehrere Wochenenden zusammen. Für Teilnehmende ist dies oft ein beeindruckendes Erlebnis. In der Herbstausgabe 2021 des Magazins „Gute Aussichten“ des Vorarlberger Büro für Freiwilliges Engagement und Beteiligung finden sich viele geradezu überschwängliche Erlebnisberichte. Gleichzeitig ist es nicht jedem möglich, ein ganzes Wochenende oder mehr für die Teilnahme an einem Bürgerrat aufzubringen. Auf die Veranstalter kommen neben Aufwendungen für Raum, Verpflegung und Moderation auch Kosten für Aufwandsentschädigungen und Angebote für Kinderbetreuung zu. Semi-digitale Verfahren (siehe Wipptal) können hier deutlich schlanker gestaltet werden. Zudem ist es möglich, eine größere Anzahl von Teilnehmenden mit einzubeziehen, die mit unterschiedlichem Engagement und unterschiedlichem zeitlichen Aufwand dabei sind. Semi-digitale Formate weiterzuentwickeln, und auch unsere Plattform den Erfordernissen von Bürgerrats-Prozessen wie in den vergangenen Jahren bereits geschehen weiter anzupassen, ist uns deshalb bei CrowdInsights ein besonderes Anliegen.